Forum Übersicht - RE: Früher Vormittag - 2

Als die Blonde auf einmal davonläuft wird Yresen langsamer. Er hält immer noch das Messer in der Hand, aber es sieht nicht so aus als ob er Sundara damit angreifen wollte. Im vollen Licht des Tages knann Sundara diesmal auch sein Gesicht sehen. Es ist ein abgehärmtes Gesicht das Sundara entgegenblickt, von wasserblauen Augen beherrscht, deren unsteter Blick ständig hin und her zu irren scheint. Ein Gesicht das nicht alt wirkt, sicher hat er keine dreißig Stürme erlebt, aber durch Entbehrungen und Sorge gezeichnet ist. Das lange aschblonde Haar ist im Nacken mit einem Tuchstreifen zusammen gebunden. Bartstoppeln bedecken das Kinn und die Wangen des schlanken Mannes. Er trägt einen zerschlissenen, grauen Hemdkittel und gleichfarbene Hose, die von einem seltsamen Gürtel mit einigen kleinen Taschen und Schlaufen gehalten wird. Seine Füße stecken trotz der Hitze in geschnürten Stiefel, die weit über die Knöchel reichen. Er bleibt gute zwei Vat von Sundara stehen. „Schnell! Du mußt weg hier. Hier sehen sie auch am Tag und sie werden kommen! Beeil dich! Komm!“: sagt er mit einer aufforderden Geste, dreht sich fort und läuft wieder in Richtung des Hauses, aus der er gekommen ist.

Einen Augenblick sieht Sundara Ira regungslos nach. Ihr Blick drückt ihre Enttäuschung aus über den plötzlichen Abgang. Dann lässt sie die Asnivala sinken, lässt Ira laufen. Ein stimmloses "Ira" kommt über ihre Lippen, dann dreht sie das Gesicht zu Yresen. Die Enttäuschung weicht einem Ausdruck der Verwunderung, der Überraschung - und es ist naheliegend, dass diese Überraschung wohl mit dem Ausbruch der Besorgnis des Mannes zu tun hat. Kurz zucken ihre Brauen gegen die Mitte der Stirn, der Mund öffnet sich, um etwas zu sagen, dann schließt sich der Mund wieder. Sie rammt die Asnivala hinter ihren Waffengurt, und diese Zugabe zu ihrem Sammelsurium an Waffen verschiebt die Merkwürdigkeit ihrer Bewaffnung beinahe schon ins Lächerliche. Dann läuft sie auch schon hinter Yresen her, eben hin zu diesem Haus.

So behende und flink bewegt sich der Mann, dessen Messer schon an Sundaras Kehle gelegen hatte, daß sie Mühe hat Yresen, mit all den Waffen die sie mit sich herumträgt, zu folgen. Er verschwindet im Haus und ohne Licht zu machen hastet er Stufen hinunter, die in den Keller des Hauses führen. Jetzt flammt für einen Moment ein seltsam ruhiges Licht auf, daß den Raum aus dem Dunkel reißt und vermoderndes Gerümpel und eine Öffnung in der Kellerwand enthüllt. „Schnell, schnell! Da oben können sie alles sehen, auch am Tag.“: drängt er und zwängt sich schon durch die Öffnung. Für einen Augenblick läßt er die seltsame Lampe brennen um Sundara den Weg zu weisen. Es geht durch einen weiteren Kellerraum, dann die Treppen hinauf, hinaus in einen Garten, dann wieder in einen Keller und hinein in einen unterirdischen Gang. Sundara kann kaum etwas erkennen und muß sich anstrengen um Yresen, der sich hier mit der Sicherheit eines Mannes bewegt, der hier unten zu Hause ist, nicht zu verlieren.

Was verleitet Sundara wohl dazu, dem seltsamen Mann zu folgen? Gemeinhin wird es als kein Indiz gesehen, jemandem einen überaus großen Vertrauensvorschuss zu geben, wenn man bei seiner ersten Begegnung den Stahl einer Waffe an der Kehle spürt - und die Spur derselben sind an ihrer Kehle auch immer noch zu sehen. Auch wirkt Yresen keineswegs wie der Inbegriff der Stetigkeit, ja, mit ihrer Einschätzung, dass der seltsame Mann wenigstens etwas verrückt sein müsste, wird sie nicht alleine dastehen. Und doch zögert sie keinen Augenblick und stürmt hinter ihm her, wobei die Beine freilich mit Rennen beschäftigt sind, die Hände irgendwie versuchen, die langen Klingen der Asnviale im Laufen in eine für diese Tätigkeit hinlänglich bequeme Position zu bringen. Und die Augen, ja, die haben wohl die schwierigste Aufgabe, und zwar in dem Halb- bis Dreivierteldunkel die Schritte so zu lenken, dass sich Sundara nicht auch noch das Genick bricht. Ihr Schädel brummt gehörig bei diesem Gerenne, immer wieder blitzt es vor ihren Augen orange-rot auf. Da fehlt ein Stück einer Stufe, und Sundara, noch zu wenig an die Dämmerung gewohnt, tappt mit ihrem Fuß geradewegs in das Loch. Sie taumelt, ihr Arm geht an die Wand, schrammt an den grob gehauenen Steinen entlang, da überdreht ihr Oberkörper, Iras Asnivala rutscht zur Mitte, zwischen ihre Beine - und nur ein beherzter Sprung, der sie urplötzlich neben Yresen bringt, bewahrt sie vor einem Sturz. Die Treppe ist zu Ende. Nun geht es durch den Kellerraum. Mit der linken Hand befühlt sie den zerschrammten rechten Ellenbogen. Und schon geht es wieder nach oben. Dies ist einfacher - auch weil sie nun mehr sieht, sich an das Leuchten der eigenartigen Lampe gewohnt hat. Im Garten mag Sundara die Augen schließen, urplötzlich wird sie geblendet vom Sonnenring des Tages. Freilich geht dies nicht, denn Yresen macht keinerlei Anstalten, innezuhalten. Aber da geht es auch schon wieder nach unten, und schließlich in einen unterirdischen Gang.

"Aber," fragt Sundara leucht keuchend, "wie sehen die uns, wenn doch niemand da ist?"

--> Im Dämmerlicht