Forum Übersicht - Die Straßen der Stadt » Das neue, alte Haus

Sundara verlässt also Misakis Haus. Vor der Tür hält sie inne. Ihr Blick schweift über die Vegetation an der Straße, ihre Lungen füllen sich mit der relativ frischen Luft nach dem Mittagsregen. Noch einmal lässt sie das, was besprochen wurde, revue passieren. Ira mag Vorovisin sein, doch ist sich Sundara sicher, eine Freundin gefunden zu haben. Freilich kann es gespielt sein, dessen ist sich Sundara sehr wohl bewusst, doch ebenso weiß sie, dass sie wohl im Moment niemandem mehr trauen kann als eben der blonden Garnisons-Rottenführerin. Aus Bokh wird sie nicht schlau - einerseits scheinbar loyaler Elurier, andererseits entschiedener Gegner ihrer Freundin Chelia, der Ira so ähnlich ist, und damit wohl auch Gegner ihrer selbst, die für die hübsche Soldatin gerne den Tod hingenommen hätte - wenn es ihr denn möglich gewesen wäre. Denn dass sie etwa in jener Schlacht ebenso zu Tode gekommen sein könnte, dies entzieht sich vollkommen Sundaras Vorstellungskraft. Ganz anders erscheinen ihr wohl Keresin und Misaki. Letztere hat sich ihr gegenüber wohl sehr zuvorkommend verhalten. Doch ist sie von hier, eine von denen. Sie erscheint ihr mächtig zu sein, mächtiger als sie zugeben will oder kann, und damit per Definition verdächtig. Ira scheint ihr jedoch zu vertrauen, und dieses Vertrauen ist sie wohl gewillt zu übernehmen. Vordergründig jedenfalls. Denn die Augen offen zu halten, dies kann man wohl kaum als mangelnde Loyalität einer Freundin gegenüber auslegen. Doch Misaki näher unter die Lupe zu nehmen, das kann sie mit eben dieser Freundschaft nicht vereinbaren, so sehr es ihr auch in den Fingern juckt. Keresin ist ihr wohl auch ein Rätsel. So offen, so vernünftig er zu Beginn erschienen ist, so sehr hat er sich verändert gezeigt, als sie sich nach dem Disput zwischen dem Legaten und Ira in dem Haus getroffen haben. Dass die Art der Übergabe der Binden damit etwas zu tun haben könnte, dies entzieht sich ebenfalls Sundaras Kenntnis - ist sie mit den Gebräuchen in Vorovis doch wenig vertraut. Der verächtliche Blick ihr gegenüber war jedenfalls wenig vertrauensvoll. Sundara gibt reichlich wenig auf Keresin. Sollte Ira das Bündnis zwischen den Dreien erneuern können, wäre dies wohl positiv, doch hat Sundara Zweifel daran. Gronk und Kaar scheinen nun nur begrenzt verfügbar, scheinen sie doch zu sehr auf sich selbst konzentriert, scheinen sie mehr in den Tag hinein zu leben. Inara ist ihr ein Rätsel geblieben, ganz schwer einzuschätzen, ebenso wie Lenari, wobei sie sich bei letzerer wenigstens ziemlich sicher ist, dass sie ziemlich unbrauchbar sein würde, wenn es wirklich brenzlig werden sollte. Auch scheint sich besonders Lenari ja ziemlich damit abgefunden zu haben, in diesem Zwyselloch zu bleiben. Ein Lächeln umspielt Sundaras Lippen. Ja, wenn sie ihr Gefühl nicht ganz trügt, so hat sie es mit Ira nicht ganz schlecht getroffen. Und die Ähnlichkeit mit Chelia Zontor ist, abgesehen vom Äußeren, geradezu frappierend. Vielleicht mag Ira nach außen berechnender erscheinen, vielleicht skrupelloser. Aber sie scheint Mut zu haben, so wie Chelia. Und dass sie sich schwer tut, sich unter Kontrolle zu halten in ihrem endrakhischen Drang, das hat sie ja auch auf der Insel schon unter Beweis gestellt. Man kann Spaß mit ihr haben, sie sieht verdammt gut aus ohne eingebildet zu wirken. Und, und, und.

Doch Sundara hat etwas zu tun. Also lenkt sie ihre Schritte durch die Straßen. Mehr als einmal muss sie innehalten, sich umsehen. Und doch findet sie den Weg zu der Schänke ohne irgendwann irre zu gehen. Von dort ist es nicht weit zu dem Haus, in dem sie die erste Nacht verbracht haben. Die Tür steht offen, haben doch sämtliche Einwohner das Haus ohne jegliche Sorgfalt verlassen. Wie anders jedoch Sundaras Herangehensweise ist, als sie das Haus das zweite Mal betritt! Nein, die Verteidigungsfähigkeit desselben steht nicht mehr an erster Stelle. Wohl hat die Sorge vor einem ebensolchen Angriff hurtig abgenommen, ist ihr doch keinerlei Gefahr widerfahren. Und irgendwelche Gerüchte um magische Waffen sind ihr schließlich doch ziemlich einerlei, solange sie keine solche gesehen hat. Schließlich ist die Existenz eines Gegenstandes an sich ja auch nicht gefährlich, solange sich der Besitzer desselben nicht gegen einen wendet. Und da weder Ira noch Sundara irgendetwas unternommen haben, das irgendjemandem Schaden zufügen könnte, erscheint ihr irgendwelche Feindschaft abwegig. Vielmehr schaut sie dieses Mal nach all jenem, das das Haus wohnlich erscheinen lässt, eben das ein Haus zu einem Heim macht. Sie packt ihre ganzen Stöcke auf das Regal in der Rumpelkammer, einen neben den anderen, als dass sie in Ruhe trocknen können. Sie überprüft die Töpfe in der Küche, das hölzerne Geschirr, das Besteck. Alles scheint in bester Ordnung zu sein. Sie steigt die Treppen empor, nimmt die Matten, eine nach der anderen, schleppt sie auf den Balkon, klopft sie mit der flachen Hand aus und gibt sie wieder zurück. Sie findet einen Besen, fegt das gesamte Haus durch. In anderen Worten, sie macht genau das, was ihr im Falle Lenaris am Vortag noch so abwegig erschien: Sie richtet sich ein.

Als sie das Haus zu ihrer Zufriedenheit hergerichtet hat - wobei diese Zufriedenheit weitab jeder Perfektion zu sein scheint - verlässt sie das Haus wieder. Sie geht zu dem See, an dem sie mit Bokh gelegen ist. Sie hat dort etwas entdeckt, das ihre Glückseligkeit bis zum Zerplatzen erfüllt hat: Sie hat eine schöne Ansammlung an Etrusha-Pflanzen gesehen. Also pflückt sie eine gehörige Menge davon, kehrt zu dem Haus zurück und breitet die Blätter auf das Regal über die Stöckchen. Und schließlich macht sie sich erneut auf den Weg, geht nach Westen. Ihr Ziel ist es, den Urwald zu durchqueren, dorthin zu gelangen, wo sie am Vortag den Avellyana-Strauch gefunden hat. Es waren da, in unmittelbarer Nähe zu einigen Feldern, eine ganze Anzahl solcher Sträucher gewesen. Und so macht sich Sundara gemütlich daran, noch eine schöne Anzahl von potentiellen Pfeilschäften zu schneiden.

In der Tat ist die Aufmerksamkeit der Sundara Jahasi einzig und allein der Beschaffenheit der einzelnen Avellyana-Zweige gewidmet. Mit aufmerksamem Blick mustert sie die Beschaffenheit jedes einzelnen davon, wie lang die Abstände zwischen den Knoten sind, wie gerade die Faserung dazwischen verläuft - es ist schließlich kein Geheimnis, dass ein guter Pfeil zwar eine ordentliche Spitze braucht, dass allerdings der Schaft dies ist, die die Qualität des Pfeiles eigentlich ausmacht. Und so weiß sie anfangs gar nicht wie ihr geschieht, als sie plötzlich mit der Nase in dem Gras unter den Sträuchern liegt. Fluchend dreht sie sich zunächst auf deren Rücken, und mit einem Ruck ist sie wieder auf den Beinen. Sie mustert das Gras zwischen den Sträuchern, tritt anschließend gegen das Stück Holz, als wolle sie es dafür bestrafen, eben ein solches Hindernis in ihrem Vorhaben gewesen zu sein. Schon dreht sie sich um, will sich wieder den Sträuchern widmen, als sie doch innehält. Nein, etwas stimmt nicht. Sie weiß nicht, was es ist, aber irgendetwas... Sie dreht sich wieder um, geht vor dem scheinbaren Holzstück in die Knie und betrachtet es. Da fällt es ihr auf. Sie nimmt das Teil mit beiden Händen und zieht daran. Und sollte dies nichts nützen, so wird sie zu graben beginnen, mit den eben geschnittenen Stöcken, mit bloßen Händen. Den Göttern sei Dank ist die Erde in solch fruchtbaren Streifen selten allzu hart. Und so gräbt sie weiter, zieht immer wieder an dem Irgendwas, bis sie es irgendwann in den Händen hält.

Das Graben mit den bloßen Händen hat freilich einige Nachteile. Abgesehen von der langsamen Geschwindigkeit ist es wohl nichts für eine eitle Frau, die Wert auf gepflegte Hände legt. So weich Erde auch sein kann, es finden sich immer wieder kleine Steine oder andere harte Gegenstände darin, die meist härter sind als die menschliche Haut. Und so ist es auch alsbald um die Integrität der Cutis von Sundaras Fingern geschehen. Doch Sundara ist keine eitle Frau, und wenn man ein Projekt begonnen hat, will man es meist auch abschließen. Also gräbt sie und gräbt, bis sich plötzlich der ominöse Gegenstand löst und mit einem Ruck seine irdische Umhüllung verlässt. Fast wäre Sundara nach hinten über gefallen - aber nur fast. Jedenfalls ist das Klappern aus dem Inneren des Zylinders das erste, was Sundara von dem Teil wahrnimmt. Als sie es dann genauer betrachtet, ziehen sich ihre Augenbrauen zusammen. Sie setzt sich im Schneidersitz auf das Gras, dreht und wendet das metallene Behältnis. Immer wieder rutscht eine Fingerkuppe in die Vertiefung, stets versucht, den Sinn dieser Mulde auszumachen. Ist sie ein Hinweis darauf, wie man das Ding eigentlich hält? Ist sie da, um es leichter aufschrauben oder öffnen zu können? Kann man es überhaupt öffnen, oder ist die Oberfläche aus einem Guß, und das Irgendetwas im Inneren nicht herauszunehmen, ohne den Zylinder zu zerstören? Oder aber ist die Mulde einfach eine Beschädigung, hervorgerufen durch langen Gebrauch, die am Ende das Ding zerstört hat und es deshalb so nonchalant unter den Sträuchern entsorgt wurde? Denn das Gewicht des Dings verrät ihr, dass die Wände desselben nicht sehr dick und damit nicht äußerst widerstandsfähig sein können. Sie schüttelt das Ding und hält es sich dabei an das Ohr, um vielleicht etwas über die Beschaffenheit des Irgendetwas im Inneren des Dings herauszufinden. Ist es auch aus Metall? Ist es groß? Ist es klein? Nun ist Sundara keine Schmiedin, doch sie weiß, dass etwas, das in der Erde grünlich wird, nicht aus Eisen sein kann. Waffen rosten rot, also wird das Ding eher rötlich schimmern, so wie Kupfer, das, und das ist Sundara sehr wohl bekannt, grünspanig wird. Und noch eines weiß Sundara: Kupfer ist weicher als Stahl, insofern müsste sie das Ding notgedrungen mit der Asnivala zerstören können, um an das Irgendetwas darin zu kommen. Doch vorerst muss sie wissen, was das Ding eigentlich ist.

Die Entdeckung lässt Sundara unweigerlich ihren Daumen in die Delle legen, sie versucht, wenn auch etwas zögerlich, den Zylinder aufzuschrauben, auseinander zu ziehen, was auch immer, um das Irgendetwas aus seinem Gefängnis zu befreien. Schnell jedoch bricht sie diesen Versuch ab. Was, wenn das Irgendetwas gefährlich war, wenn der gesamte Zylinder sich als Falle entpuppen sollte, so wie Keresin in eine Falle getappt war? Wer würde sie hier, zwischen den zwei Sträuchern, finden, zu Misaki bringen? Sundara sieht sich um. Sie ist allein, ein paar Felder kann sie in einigen hundert Vat Entfernung ausmachen - mehr nicht. Sundara ist kein Feigling, doch hat der Krieg sie gelehrt, kein sinnloses, übertriebenes Risiko einzugehen, wenn das Ziel nicht wichtig genug ist, und schon gar nicht, wenn sich das Risiko verringern lässt. Nein, sie wird den Zylinder jetzt nicht öffnen. Sie steht auf, steckt sich den Zylinder hinter den Gürtel, packt die geschnittenen Stöcke in den Pfeilköcher. So sehr jedoch beschäftigt sie der Zylinder in Gedanken, dass das Kaninchon, das in 50 oder 60 Vat Entfernung vorbei hoppelt, von ihrem Pfeil ganz und gar unbehelligt bleibt.

Sundara ist sich nicht im Klaren, ob sie den Zylinder jetzt einem Einheimischen zeigen soll. Vielleicht könnte ihr jemand sagen, was es wäre. Sie ist sich nicht im Klaren, mit wem sie den Zylinder öffnen soll. Sie ist sich nicht im Klaren, wohin sie den Zylinder bringen soll. Und so passiert es weitestgehend unbewusst, dass ihre Schritte sie zu dem Haus lenken, dass ihnen vorher vom Wirt, dann von der Heilerin als Heimstatt anempfohlen worden ist.

Es dauert nicht lange seine wenigen Besitztümer zusammenzusuchen und sie in Tasche und einer Deckenrolle zu verpacken. Die Sachen der beiden Frauen mit denen er dieses Quartier geteilt hat rührt Keresin nicht an, aber er durchsucht recht gründlich die Räume nach brauchbaren Gegenständen. Viel findet er nicht und er nimmt davon auch nur eine Rolle dünnen Seils, einen Lederriemen und eine der kleinen Laternen an sich. Für einen Moment spielt er mit dem Gedanken sich noch gründlich zu waschen, aber dann beschließt er zu gehen. Hier gibt es genug Brunnen und er will keine Zeit mehr vergeuden. So hängt er sich die Deckenrolle und seine Tasche um und macht sich daran das Haus zu verlassen.

Nun, sofern Keresin nicht an Avellyana-Stöckchen oder an ungetrocknetem Etrusha interessiert ist, wird er wohl recht wenige Hinterlassenschaften der beiden Damen finden. Beide sind mit keinem großen Hausrat auf der Insel erschienen, und wenigstens Sundara hatte ja bis vor einigen Jhane gar nicht daran gedacht, weiterhin in dem Haus zu wohnen. Während er sich also anschickt, über die Schwelle des Hauses in den Garten zu schreiten, ist eine weitere neue Bewohnerin der geheimnisvollen Stadt gerade dabei, denselben Weg in umgekehrte Richtung zurückzulegen. Ruckartig bleibt sie stehen, sieht Keresin zunächst an, als würde sie einen Geist sehen, bevor sich ihre Lippen auseinanderziehen, um lächelnderweise eine Reihe gerader, weißer Zähne zu offenbaren, während sich in ihren Augen ein freundliches, fröhliches und über alle Maßen intensives Strahlen breitmacht, das in dieser Art und Weise wohl nur bei einer einzigen Person auftritt. Diese blau-grünen Augen, die Keresin entgegenscheinen sind zweifelsohne die der Sundara Jahasi.

„Wie, du bist schon wieder auf den Beinen?“ fragt sie also halb überrascht, halb hocherfreut. „Das ist ja fabelhaft! Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht!“

Kaum hat sie ausgeredet, macht sie nun etwas, mit dem Keresin wohl kaum gerechnet hat, und dem er in der Geschwindigkeit, in der es geschieht, wohl auch wenig entgegensetzen kann: Sie macht den letzten Schritt auf ihn zu, legt ihm die Arme um den Hals, umarmt ihn und drückt ihm einen Kuss auf die Wange. Und so schnell wie es zu diesem zugegebenermaßen etwas überschwänglichen Ausdruck ihrer Gefühle gekommen ist, so schnell stellt sie auch schon wieder die ursprüngliche Distanz her. Nur das Strahlen in den Augen, das bleibt.

Der Kuß überrascht Keresin so sehr, daß seine Ausweichbewegung zu spät kommt. Als der Ausdruck von Überraschung der kühlen Distanz weicht, die er so oft an den Tag legt, wirkt er als wäre nichts geschehen, doch dann kann Sundara das Flackern im Blick seiner leicht zusammen gekniffenen Augen erkennen. Sie hat dieses Flackern nach blutigen Gefechten schon bei Kameraden gesehen, die Yorom um Haaresbreite von der Schippe gesprungen sind. Sein Tonfall dagegen gibt nichts von seinen Gefühlen preis. „Das wundert mich mehr als euch.“: antwortet er reserviert. „Aber Misakis Heilkunst ist vortrefflich. Es gibt keinen Grund euch zu sorgen, mir geht es gut.“ Für einen Moment erwidert er ihren Blick, dann sagt er: „Jetzt entschuldigt mich bitte. Ich muß mir noch eine Bleibe suchen und langsam wird es spät. Gehabt euch wohl.“ Er nickt Sundara noch grüßend zu, dann wendet er sich zum Gehen.

Sundara steht Keresin mit ihrem strahlenden Blick gegenüber. Als er jedoch in seiner Antwort in das höflich-distanzierte „Euch“ übergeht, bedecken ihre Lippen wieder ihre Zähne, der Mund zieht sich leicht zusammen, und die Begeisterung über die unerwartete Begegnung macht einem Ausdruck der Enttäuschung Platz. Sie wirkt plötzlich noch kleiner, als sie ohnehin schon ist, lässt die Schultern hängen, senkt ihren Kopf, ohne jedoch den Blick von Keresin abzuwenden. Und so steht sie still, als er sich zum Gehen anschickt, lässt ihn schweigend an sich vorübergehen. Erst als Keresin vier oder fünf Schritte von ihr entfernt ist, dreht sie sich zu ihm um.

„Keresin,“ sagt sie, und in ihrer heiseren Stimme ist ein leichtes Zittern zu erkennen, „hast du einen Moment? Ich habe etwas gefunden, das ich mit dir gerne genauer anschauen möchte.“

Sollte sich Keresin nun doch noch einmal umdrehen, wird er Sundara sehen, wie sie da steht, mit geradezu flehendem Blick, den angerosteten Zylinder in der rechen Hand, diese ungefähr schulterhoch gehoben und einen halben Vat nach vorne gestreckt. Sie wirkt noch immer klein, beinahe unterwürfig.

Ob es nun ihr Tonfall oder Neugierde ist bleibt dahingestellt, aber Keresin dreht sich um. Etwas verwundert über ihre fast schon unterwürfige Haltung zieht er leicht eine Augenbraue in die Höhe, aber dann wandert sein Blick zu dem Gegenstand den ihm Sundara entgegenhält. Jetzt zeigt sich auch Interesse in seinem Blick. Keresin macht einige Schritte auf sie zu und betrachet das Objekt einen Augenblick, bevor er seinen Blick wieder auf Sundara richtet. „Sieht alt aus. Darf ich?“ Er streckt seine Hand nach dem Zylinder aus und nimmt ihn an sich. Für eine ganze Weile dreht er ihn vorsichtig in seinen Händen und betrachtet ihn genau. Er bemerkt sowohl die Delle als auch die feine Rille. „Ich habe nicht die geringste Ahnung was das sein soll. Aber wenn du mich fragst sieht es aus wie irgendein Transportbehälter. Wo hast du das Ding gefunden?“: erkundigt sich Keresin und reicht Sundara den Gegenstand zurück. Im Moment fällt es ihm nicht auf das er gewohnheitsmäßig wieder die vertrautere Anrede gebraucht.

Bereitwillig überlässt Sundara Keresin den Zylinder. Die Enttäuschung in ihren Augen weicht einem Ausdruck der Erleichterung. Das Strahlen kehrt in ihre Augen zurück, und während Keresin den Zylinder nimmt, umspielt ihre Lippen ein zaghaftes Lächeln. Geduldig und schweigend steht sie da, während Keresin den Zylinder betrachtet, und hebt die Hand erst dann wieder, als ihr Keresin das Ding wieder zurückgibt.

"Westlich der Stadt, hinter dem Urwald, zwischen zwei Avellyana-Sträuchern," antwortet sie. "Ich war gerade dabei, Pfeilschäfte zu schneiden, da bin ich über das Ding gestolpert. Es war zu zwei Dritteln eingegraben. Zu Beginn hielt ich es für ein Stück Holz, dafür ist es aber viel zu gerade. Also habe ich es ausgegraben und mitgenommen."

Sie sieht Keresin zwei oder drei Augenblicke mit großen, strahlenden Augen an, dann fährt sie fort: "Ich wollte schon versuchen, es zu öffnen, weil irgendetwas ist drin. Aber ich dachte mir, es wäre besser, nicht allein zu sein, wenn ich das mache. Wer weiß, was es ist. Vielleicht ist es ja gefährlich. Und ich wollte da nicht irgendwann zwischen den beiden Sträuchern liegen und in Seelenruhe darauf warten, über die Eisfelder zu gehen."

Sie dreht nun selbst wieder den Zylinder in ihren von Erde dreckigen, schwieligen Händen. Mit einem Fingernagel fährt sie die Rille entlang, die wohl der Punkt sein müsste, an dem man das Ding auch öffnen kann, um an das Irgendetwas zu kommen. Sie sieht danach Keresin wieder an. "Was sagst du, sollen wir es versuchen?"

Nachdenklich kratzt sich Keresin das stoppelbärtige Kinn. „Also ein Zufallsfund und so wie es aussieht ist der Zylinder lange in der Erde gelegen. Wer immer es verborgen oder verloren hat ist sicher längst auf den Eisfeldern. Ich frage mich also was könnte es enthalten das für uns von Nutzen ist. Wer weiß ob das Ding nicht auch von einer dieser Fallen gesichert ist, die mich fast auf die Eisfelder befördert hat. Ich bin mir nicht sicher ob es das Risiko wert ist das Ding mit Gewalt zu öffnen.“ Er erwidert für einen Atemzug ihren Blick. „Vernünftiger ist es auf jeden Fall sich zuerst zu erkundigen ob irgendjemand von den Leuten hier weiß womit wir es zu tun haben. Natürlich riskieren wir damit von jemandem angelogen zu werden und vielleicht etwas Wichtiges aus der Hand zu geben, aber wir können immer noch versuchen es mit Gewalt zu öffen, wenn wir den Eindruck haben, daß man uns hintergehen will.“ Dann schmunzelt Keresin. „Wenn ich es richtig verstanden habe, dann bringt morgen diese Misaki Ira hierher. Dann können wir sie fragen was dieser Gegenstand ist und werden sehen wie weit es mit ihrer Ehrlichkeit her ist. Aber wie du willst. Du hast das Ding gefunden.“

Fische! Als Keresin und Sundara von dem Zylinder aufschauen, sehen sie im Augenwinkel drei Fische an einem Stock baumeln. Aus etwa der Richtung aus der Sundara zuvor kam, biegt der Stock mit den Fisch um die Häuserecke. Oder zumindest um das, was mal eine Häuserecke war. Die Trägerin des Stocks ist die Allianzlerin mit der Kleidung im ashrabaschen Stil. Ein Blinzeln später fällt auf, dass sie mitgenommener aussieht, als noch zwei Tage zuvor. Das Haar hat sie zusammen mit ihrem Tuch um den Kopf drapiert. Die Spitze der Hose ist eingerissen. Staub bedeckt ihre in Sandalen steckenden Füße und die nackten Unterschenkel und er klebt ganz sicher auch auf ihren Armen und im Gesicht. Von dem einstmals strahlenden Blautönen ihrer Kleidung ist ein blasser Schimmer über geblieben. Vermutlich benötigt diese ebenso eine Wäsche, wie ihre Trägerin ein Bad. Der Schmuck aus Muscheln ist verschwunden, aber ansonsten scheinen sich Anzahl und Art ihrer wenigen Habseligkeiten nicht verändert zu haben. Die kleine lederne Tasche trägt sie mit dem Riemen quer über den Oberkörper und an ihrer Seite hängt in der passende Scheide ihre Asnivala.

Inara hat sich den Stock über die Schulter gehängt und hält ihn mit der linken Hand fest. Dass der Vorovisianer und die Elurierin zuerst die Fisch gesehen haben ist der Tatsache geschuldet, dass die Allianzlerin sich gerade umgesehen und dabei um die eigene Achse gedreht hat. Sich in einer neuen Stadt nach so kurzer Zeit zurecht zu finden ist wahrlich nicht so einfach.